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Sex, Yvorne und Rock'n'Roll in London

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Text von Richard Reich. Bild von Abbie Trayler-Smith
Armin Loetscher ist Inhaber des St. Moritz Restaurant & Club in London, Stadtteil Soho. Armin ist, was man gern ein stadtbekanntes Original nennt. Jeder hier kennt Armin, mindestens jeder Schweizer Expat.

 

«Eine persönliche Frage», sagt Abbie, «was für eine Gesichtscrème verwendest du?» Armin lacht erfreut, fährt sich mit der flachen Hand über die Wange und sagt: «Mein Geheimnis!» Armin ist Mitte siebzig. Aber seine Haut ist fein, seine Backen sind immer noch kugelrund, die Äuglein leuchten lustig, sein verschmitztes Lachen macht ihn zum ewigen Buben. Jedoch Vorsicht: Das ist ein Bub mit dem Charme eines alten Schwerenöters.

Sex, Yvorne und Rock'n'Roll

«More Yvorne?», fragt Armin und füllt Abbie, unserer Fotografin, das Glas, ohne auf ihre Antwort zu warten. Später, als wir den unter dem Restaurant liegenden Nightclub besichtigen, wird uns Armin mit dem gleichen bubenhaften Lachen zuflüstern: «Hier ging früher die Post ab, weisch! In den Sixties, da gab's hier Meitli, sag ich dir, die hast du einfach . . .?» Armin macht eine wedelnde Handbewegung. Das Kellerlokal ist verwinkelt, mit vielen Nischen, verschwiegenen Ecken, die uns, wenn das Gemäuer statt Ritzen Münder hätte, Geschichten erzählen könnten, Storys über Sex, Yvorne und Rock'n'Roll – das will man gar nicht wissen!

«Früher», sagt Armin und tunkt ein Brotstück ins Fondue (natürlich Hausmischung), «da haben bei mir im Keller Weltstars gespielt!» Es folgt eine Namenliste samt Fussnoten, eine Geisterbahnfahrt durchs Paläozoikum der Pop-Geschichte: The Sweet, der Ex-Stone Mick Taylor, Joe Strummer von The Clash, Duran Duran, Bay City Rollers, Jon Lord, «du weisst ja, der von Deep Purple, genau, der vorletzte Woche gestorben ist . . .» Und wer's nicht glaubt, der komme nach London, steige hinab in den St.-Moritz-Keller! Denn hier hängen sie, die Beweise: Hunderte von räudigen Rockmusikern, gebannt auf gerahmten Erinnerungsföteli, Arm in Arm mit Armin (oder einem halbnackten Meitli).

Zu den besten Zeiten, an den heissesten Abenden, waren da unten 600 Leute zugegen. 600 Flower-gepowerte Teens und Twens auf den paar Quadratmetern! Man bekommt Schweissausbrüche beim blossen Gedanken.

«No e chli Yvorne?», fragt Armin und schenkt uns die Gläser voll bis zum Rand, bevor er seine Geschichte von vorn erzählt. Wie er, gelernter Patissier (Confiserie Schurter, Züri-Niederdorf), 1959 in London angekommen war. Wie er zuerst für den alten Patron im St. Moritz arbeitete, dann den Club 69 übernahm; wie er 74 das Speiserestaurant hinzufügte, zuerst Fish & Chips, aber bald schon traditionelle Schweizer Küche. Gschnätzlets, Bündnerteller, Fondue und so weiter, halt was das St. Moritz auch heute noch serviert.

«Watch out: Table four!» Während Armin räsoniert, behält er seine rumänische Serviertochter im Auge (leider bekommt man ja keine Schweizerinnen mehr). Das Lokal ist gut besetzt, vor allem Touristen; Käsegeruch hängt in der Luft (Armin importiert direkt), und an der Wand da hinten ein Alphorn.

Im Herzen die Heimat

«Still rocking!», wird Armin später, während Abbies Foto-Shooting im Keller unten rufen, einmal Rock'n'Roll, immer Rock'n'Roll. Das mag stimmen, nur gibt es noch die andere Wahrheit: Einmal Schweizer, immer Schweizer. Das ist und bleibt so, egal wo du wohnst, ob in Entlebuch, wo Armin herkommt, in Züri oder Soho.

Denn wenn der Abend älter wird und das St. Moritz ruhiger, steigt Armin heutzutage nicht mehr in den Club hinab, der auch ohne den Chef noch ganz ordeli läuft. Stattdessen trottet er in den ersten Stock hinauf, wo er das Büro hat und zum Entspannen noch Buchhaltung macht. Und während er Zahlen beigt, hört Armin am liebsten DRS-Musikwelle, schliesslich ist das Alphorn im Lokal kein Kitsch. Armin kann es spielen, und das Handörgeli grad auch.

Und wenn im Radio nichts Lüpfiges kommt, schaltet Armin den Fernseher ein und hofft, dass sie einen alten Schweizer Film bringen, Ueli der Knecht oder der Pächter oder Bäckerei Zürrer. «Weisst du», sagt Armin, «ich bin ja ein riesiger Ferdy-Kübler-Fan. Habe ich schon erzählt, wen ich seinerzeit in Crystal Palace gesehen habe? Die Antenen! Und den Frischi und den Zweifel, die sind da drüben Rennen gefahren, kannst du dir das vorstellen?» Statt dem Käseduft hängt jetzt pures Heimweh in der Luft.

«Some more Yvorne, Abbie?», zwitschert Armin und wischt sich mit der Hand über die Lausbuben-Backen. Momoll, denkt man sich, dieser Armin ist im Grund ein glücklicher Mensch.