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Der Cornalin, ein geliebtes Enfant Terrible

Quelle /
Martin Kilchmann
Der rote Cornalin du Valais ist eine kapriziöse, aber charaktervolle Walliser Rebsorte. Viele Winzer halten sie für die wertvollste autochthone Spezialität des Kantons. Einst vom Aussterben bedroht, erlebt sie heute eine wundersame Renaissance.

Olivier Mounir zeigt zu den Rebterrassen hoch: «Dort oben auf 600 Meter wachsen in geschützter Lage die Cornalin-Reben meiner Domaine Trong. Die südliche Exposition ist perfekt für die spät reifende Sorte. Früher wurzelten dort Pinot-Noir-Stöcke. Die Trauben wurden meist zu reif.» Und die Weine bekamen diesen typischen, leicht verbrannt wirkenden Goût, der das Image der Oberwalliser Pinot-Hochburg Salgesch viele Jahre geprägt hatte.

Die Domaine Trong wird seit 2006 als erster Rebberg der Cave du Rhodan biologisch-dynamisch bewirtschaftet. Mit Cornalin pflanzte Mounir dabei bewusst keine pflegeleichte Sorte. Der drahtige Salgescher scheut den Weg des geringsten Widerstands. Denn Cornalin verlangt dem Winzer alles ab. Er ärgert ihn mit unregelmässigem Ertrag – das eine Jahr geizt er mit kümmerlichem Behang, das Jahr darauf gibt er sich geradezu verschwenderisch. Auf kalkhaltigen Böden reagiert er empfindlich auf Magnesiummangel, was zu einem Abbau des Chlorophylls führt. Die Blätter verfärben sich rot, und die Reife verzögert sich. Seine Blätter sind anfällig für Sonnenbrand. Rebschnitt, Laubarbeit und sparsame Bewässerung verlangen ein besonderes Augenmass.

Ein wallisischer Charakterkopf

Olivier Mounir pflegt ein ambivalentes Verhältnis zum Cornalin. «Aufwendig im Rebberg, erweist er sich im Keller als Topsorte. Wie der Pinot Noir verzeiht er zwar keinen Fehler, belohnt aber eine sorgfältige Arbeit mit einem charaktervollen, strukturreichen Wein, der ausgezeichnet reift.» Er zeigt Präsenz, aromatische Tiefe, sattes Tannin und ausgeprägte Frische. Mounirs Wein aus Trong – spontanvergoren und im Stahltank ausgebaut – ist dafür ein Musterbeispiel.

Der Cornalin gilt als eine der ältesten Walliser Sorten. Die erste schriftliche Erwähnung findet sich vermutlich 1313 -in einem Verzeichnis aus Anniviers. Bis zum Beginn des 20. Jahrhunderts wurde die Sorte unter dem Namen «Vieux Rouge du Pays» oder «Alter Landroter» im ganzen Wallis angebaut. Im mittelalterlichen Städtchen Leuk steht heute ein alter Spalierbaum, der im Herbst 15 bis 25 Kilogramm Cornalin-Trauben trägt. Untersuchungen der Forschungsanstalten Birmensdorf und Wädenswil datieren sein Pflanzalter auf 1798.

Eine Gruppe von Leuker Winzern rettete das wertvolle Erbe. Sie schnitten Triebe vom Baum und veredelten diese in einem Mutterweingarten. Darauf pflanzten sie die Reben in den geschütztesten und wärmsten Lagen der eigenen Weinberge. 2004 kelterten sie unter dem Namen «Vitis Antiqua 1798» erstmals einen Cornalin aus den Nachkommen der Rebe aus der Zeit der französischen Revolution.

Im Verlauf des 20. Jahrhunderts geriet der Landrote in Vergessenheit. Die Reblaus hatte ihn dezimiert, und als Neupflanzung war er chancenlos gegenüber den modernen, pflegeleichteren Sorten. 1960 wurden im ganzen Kanton noch 18.000 Kilo geerntet. Doch wie so oft nahte in grösster Gefahr die Rettung. Zum einen machten sich Vertreter des Kantons wie der ehemalige Rebbaukommissär Jean Nicollier auf Spurensuche. Zum anderen wehrten sich einzelne Winzer gegen das Verschwinden der rebbaugeschichtlich kapitalen Sorte. 

André Mathier von der Weinkellerei Franz-Josef Mathier in Salgesch bot dem Landroten in seinem Rebberg ein Refugium und förderte seine Produktion. Charles Caloz in Sierre und Edmond Defayes in Leytron folgten seinem Beispiel. 1972 schlug Nicollier die Umbenennung des Landroten in Cornalin vor – das funkelnde Rot des Weins hätte ihn an den rotfarbigen Karneol-Achat erinnert.

Die Namensänderung kam im Wallis schlecht an, gab es doch schon im benachbarten Aostatal einen Cornalin, und man fürchtete eine Verwechslung. Neuere genetische Forschungen des Rebsortenkundlers José Vouillamoz kamen zu dem Resultat, dass der Aostataler Cornalin die gleichen genetischen Wurzeln wie der Walliser Humagne Rouge besitzt. Die DNA-Analyse ergab aber auch, dass der Walliser Cornalin in ferner Vergangenheit aus einer natürlichen Kreuzung von Mayolet und Petit Rouge aus dem Aostatal entstanden ist. Vielleicht müssten die Walliser ihren Wein deshalb konsequent als Cornalin du Valais bezeichnen. 

Heute ist der Cornalin trotz seines kapriziösen Wesens beliebt. Seine Rebfläche ist wieder auf 135 Hektaren gestiegen, verdreifachte sich mithin innerhalb von zehn Jahren. Neue, pflegeleichtere und robustere Klonenselektionen hatten den Prozess unterstützt. 

Die Walliser sind stolz auf den solitären Wein mit seiner wilden, rustikalen Schlagseite. Sie fühlen sich als Bergler insgeheim wohl etwas wesensverwandt. Er kann mit kirschenduftiger, würziger Frucht, mit Struktur und Dichte verblüffen. Er kann bei hohen Erträgen aber auch die harmlosere Seite hervorkehren, die ihn gezähmt und banal erscheinen lässt. Mit dem Ausbau im kleinen Eichenfass tut er sich schwer. Da braucht es das Fingerspitzengefühl des Winzers, um ihn vor Holzdominanz zu bewahren. Der eben abgefüllte oder abfüllbereite, reife und reiche Jahrgang 2015 wird sicher den Mythos Cornalin weiter stärken. Er schenkte uns Weine mit Ausdruckskraft und Lagerpotenzial. Sie bezirzen bereits in ihrer Jugend mit Trinkigkeit und Fruchtfülleund werden sich im Alter spannungsreich mildern und läutern. Der 2014er ist spröder, introvertierter und leiser gestimmt. Aber auch er wird geduldigere Geniesser mit seiner Eleganz und Tiefgründigkeit belohnen.

Es gibt in der Walliser Cornalin-Szene die Aufsteiger, die Bestätiger, die Verlässlichen und die alten Meister. Mit konzentrierten, noblen Weinen aus tiefem Ertrag hat sich in den jüngsten Jahrgängen Histoire d’Enfer einen neuen Namen gemacht. Robert Taramarcaz von der Domaine des Muses bestätigt regelmässig seine Ausnahmestellung, die er sich in den letzten zwölf Jahren geschaffen hat. Maurice Zufferey ist stets eine feste Bank. Sein Onkel Charles Caloz hinterliess ihm 1982, als der junge Winzer den Betrieb in Muraz übernahm, ein kostbares Cornalin-Erbe. Maurice mehrte es, kann auf den Schatz von zunehmend alten Reben zurückgreifen und erzeugt regelmässig Cornalins für den Anschauungsunterricht.

Und schliesslich Denis und Anne-Catherine Mercier, seit fünf Jahren von ihrer Tochter Madeleine sekundiert: Denis prägte den Begriff des Cornalin als «Enfant terrible», als Winzerschreck, der bei subtiler Behandlung zum Lieblingskind mutieren kann. 1982 gründeten siedas Weingut in Sierre. Ab 1986 pflanzten sie Cornalin. 1995 kelterten sie den ersten Cornalin in Barriques. Der Wein ist eine Ikone, seit dem Jahrgang 1999 Mitglied des Mémoire des Vins Suisses. 33 Degustationsnotizen der Jahrgänge 1998 bis 2012 sind in dessen Datenbank gespeichert. Kein einziger Wein, kein Jahrgang ist durchgefallen. 91 Punkte beträgt die Durchschnittsbewertung, ältere Jahrgänge inbegriffen. Gibt es noch stärkere Argumente, die für die Noblesse einer Rebsorte und eines Weinguts sprechen?

 

Über den Autor

Martin Kilchmann, Wein-Chefredakteur Schweiz, schreibt in Reportagen und Büchern seit dreissig Jahren über Winzer und Weine. Guter Wein muss für ihn die Geschichte seiner Herkunft erzählen. Am liebsten trinkt er zu einem feinen Essen mit Familie und Freunden Champagner, Burgunder, Riesling und die grossen Italiener. Nicht zu vergessen natürlich die herausragenden Gewächse der Schweiz.