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Das Chasselas-Paradox

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Martin Kilchmann
Die Anbaufläche des Chassalas in den Schweizer Weinbergen verringert sich kontinuierlich. Parallel dazu verbessert sich ebenso unaufhörlich seine Qualität.

Pierre-Luc Leyvraz ist einer der Chasselas-Meister der Romandie. Seine Rebparzellen pflegt er in Saint-Saphorin mit der Akkuratesse eines Ziergärtners, und seine Cuvées stellt er im Keller so präzise wie ein Parfümeur zusammen. Zum jüngsten Chasselas-Jahrgang 2015 sagt er: »In meiner 35-jährigen Berufslaufbahn habe ich noch nie eine solche Qualität gesehen. Der 2015er ist der konzentrierteste und reichste Jahrgang, seit ich als Winzer arbeite. Darüber hinaus besitzt er ein großartiges Lagerpotenzial.«

Zweifellos ist der Jahrgang 2015 der vorläufige Höhepunkt

Die Chasselas-Weine aus diesem warmen, trockenen Sommer und Herbst sind tatsächlich phänomenal gut. Das zeigt auch das Tasting, welches am Ende des Artikels verlinkt ist. Sie sind in ihrer Opulenz aber auch atypisch – was die unterschiedlichen Stilistiken der einzelnen Anbaugebiete verwischen kann. 

Zweifellos ist der Jahrgang 2015 aber der vorläufige Höhepunkt einer erfreulichen Qualitätsentwicklung, beruhend auf technischem Fortschritt, größerem Wissen und stimulierender Konkurrenz.

Die Qualitätssteigerung wird durch die Abnahme der Chasselas-Fläche auffällig konterkariert: Betrug die Anbaufläche 1985 noch 6700 Hektaren, ist sie 2015 um rund vierzig Prozent auf 3800 Hektaren geschrumpft. Fast eintausend Hektaren sind in den letzten zwölf Jahren verschwunden – größtenteils im Wallis, von staatlichen Ausreißprämien unterstützt, zugunsten autochthoner Sorten und Spezialitäten wie Petite Arvine, Heida, Cornalin oder Syrah.

Der Chasselas stammt nicht aus Frankreich, sondern aus dem Genferseebecken

Der Rückgang zementierte die Leader-Stellung der Chasselas-Hochburg Waadt: 2287 Hektaren Reben – sechzig Prozent der kantonalen Anbaufläche – sind im Waadtland noch mit Chasselas bestockt. Nachvollziehbar ist deshalb auch der Stolz der Waadtländer, als der renommierte Rebsortenforscher José Vouillamoz vor einigen Jahren an der Universität Neuenburg durch genetische Untersuchungen und Abgleiche von über fünfhundert Rebsorten nachweisen konnte, dass der Chasselas nicht aus dem Nahen Osten stammt, wie es die Legende erzählte, und auch nicht aus Frankreich, wo es ein Dorf namens Chasselas gibt, sondern aus dem Genferseebecken.

»Chasselas ist nichts – aber in dieser von Power dominierten Weinwelt ist das ‹Nichts› etwas Großes.« Katsuyuki Tanaka

»Im Kanton Waadt wurde der Chasselas unter dem Namen Fendant 1716 das erste Mal erwähnt«, erklärt José Vouillamoz. »Fendant« hieß die Rebsorte, weil sich ihr Fruchtfleisch auf Fingerdruck aus der sich spaltenden (»fendre«) Beere lösen lässt. Aus der Waadt verschlug es den Chasselas dann ins badische Marktgräflerland, wo er »Gutedel« gerufen wird, ins Burgund und 1850 ins Wallis. Eine Ironie des Schicksals: Während die Waadtländer ihre Weine zu Beginn des 20. Jahrhunderts nach burgundischer Manier mit dem Namen des Herkunftsdorfes (Yvorne, Epesses …) schmückten, ließen die Walliser ihren Chasselas 1966 als »Fendant« schützen.

Inzwischen hat sich der Chasselas längst zur Schweizer Nationalsorte gemausert. Und diese passt mit ihrer aromatisch und geschmacklich eher neutralen Art gut zum Land. Schon der japanische Weinkritiker Katsuyuki Tanaka schmeichelte den Waadtländer Winzern: »Chasselas ist nichts – aber in dieser von Power dominierten Weinwelt ist das ›Nichts‹ etwas Großes.« 

Es mischen sich unverkennbar mineralische Noten in das Bouquet

Subtil trifft er damit den zurückhaltenden, stillen, delikaten Charakter des Weins. Er ist zunächst mit seiner bekömmlichen, unaufdringlichen, süffigen und erfrischenden Art ein »Vin de soif«: ein quellwasserklarer Wein gegen den Durst. Stammt er aus einem großen Terroir und hat er einige Jahre der Flaschenreife hinter sich, entwickelt er sodann einen anfänglich für unvorstellbar gehaltenen, von der Mineralität gleichsam dynamisierten Facettenreichtum.

Denn der Chasselas besitzt zwar nicht den unverwechselbaren Charakter eines deutschen Rieslings oder eines Chardonnays aus dem Burgund. Doch die vermeintliche Schwäche ist seine Stärke: Die wenig akzentuierte aromatische Eigenart der Sorte erlaubt es dem Terroir – dieser geheimnisvollen Alchemie von Boden, Mikroklima, Topografie und Winzerhandschrift –, sich im Wein profilierter auszudrücken. So mischen sich eben unverkennbar mineralische Noten in das dezent nach Lindenblüten duftende Bouquet, und feine Lagennuancen werden wahrnehmbar.

Im Rebberg ist der eher frühreife Chasselas im Vergleich mit anderen Rebsorten ein ziemlich unkomplizierter Geselle. Er verdaut ohne nennenswerte Qualitätseinbusse einen Ertrag von einem Kilo pro Quadratmeter, ja, zu tiefe Erträge bekommen ihm gar schlecht. »Die daraus resultierenden höheren Öchslegrade gehen auf Kosten der Frische und Finesse«, sagt Pierre-Luc Leyvraz. Im Keller verzeiht der Chasselas dagegen keinen Fehler.

Der filigrane Charakter verlangt eine Vinifikation mit Fingerspitzengefühl. Gefragt sind eine möglichst ausgedehnte alkoholische Gärung, der lange Ausbau auf der Feinhefe und, in der Regel, die Durchführung des biologischen Säureabbaus. Eine allfällige Säurearmut wird durch die Bewahrung der Gärkohlensäure kompensiert. Einzig in warmen Jahren wie 2015 begegneten einzelne Winzer einem drohenden Säuremangel mit der ganzen oder teilweisen Unterbindung der malolaktischen Gärung.

Ein Kulturgut im Glas

Das größte Plus eines guten Chasselas – und überraschend für viele, die ihn bloß als spritzigen Apéro-Wein kennen: Er vermag sensationell gut zu reifen – vorausgesetzt eben, er stammt aus einem hervorragenden Terroir. Denn wie im Burgund die besten Böden dem Pinot Noir ihren unverwechselbaren Stempel aufdrücken, veredeln auch in der Westschweiz die nobelsten Terroirs den Chasselas.

Natürlich verliert er im Alter seine jugendliche Unbekümmertheit. Dafür verbreitert sich sein aromatisches Spektrum, sein Profil wird markanter und gleichzeitig interessanter. Mineralische, honigartige und nussige Noten treten hervor, und die sortentypische Bitterkeit wird noch stärker als strukturierendes Element wahrgenommen.

»Der Chasselas ist ein einmaliges kulturelles Erbe« Louis-Philippe Bovard

Die meisten Tropfen schmecken als »Vin de soif« in ihrer Jugend immer noch am besten. Es lohnt sich aber, als weißen Lagerwein auch einige Chasselas aus anerkannt guten Lagen einzukellern. In zehn oder mehr Jahren wird man sich an geläuterten Weinen delektieren dürfen. 

»Der Chasselas ist ein einmaliges kulturelles Erbe«, sagt Winzerdoyen Louis-Philippe Bovard. Er erzeugt die Dézaley-Ikone Médinette und begründete das »Conservatoire Mondial du Chasselas«, ein zu Studienzwecken errichteter Garten von neunzehn verschiedenen Chasselas-Typen. »Chasselas ist nicht nur ein Symbol für die Einzigartigkeit der Schweiz«, sagt er weiter, »sondern steht auch für einen Weinstil, der zurück zu Finesse, Eleganz und Leichtigkeit geht.«

 

Über den Autor

Martin Kilchmann, Wein-Chefredakteur Schweiz, schreibt in Reportagen und Büchern seit dreissig Jahren über Winzer und Weine. Guter Wein muss für ihn die Geschichte seiner Herkunft erzählen. Am liebsten trinkt er zu einem feinen Essen mit Familie und Freunden Champagner, Burgunder, Riesling und die grossen Italiener. Nicht zu vergessen natürlich die herausragenden Gewächse der Schweiz.