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Edelsteine unserer Kultur

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Text: Chandra Kurt, Bilder: zVg, Didier Ruef, Hans Peter Siffert
Kaum ein Land der Welt bietet so viele exzellente, authentische Weine wie die Schweiz. Trotzdem werden sie im Ausland kaum wahrgenommen. Warum ist das so?

Beim Gedanken an Schweizer Wein denke ich immer, dass es manchmal gut ist, nicht zu wissen, auf was für einem Schatz man sitzt, da man sonst seine Bescheidenheit verlieren würde. Schweizer Weine sind ein verborgener Schatz innerhalb der globalisierten Weinwelt. Ausserhalb der Schweiz kennt sie kaum einer. Nicht, weil sie nicht gut wären, sondern weil wir von den jährlich produzierten rund 1,07 Millionen Hektoliter Schweizer Wein etwa 98 Prozent selber trinken – ein für die globale Weinindustrie einmaliges Phänomen. Und ein Privileg: Kaum ein anderes Weinland verkauft seine Ernte so nah am Ursprungsterroir wie wir. Das ist fantastisch, bringt aber auch Nachteile mit sich, gerade wenn es um die Frage geht: Wie gut sind Schweizer Weine?

Umgeben von den besten Terroirs

Der weltweit ein ussreichste Weinkritiker Robert Parker hat in seinem Buch über die besten Weingüter der Welt («The World’s Greatest Wine Estates») eine interessante De nition dazu geschrieben, was ein grosser Wein ist – nicht nur ein guter, sondern ein grosser. Laut Parker muss er folgende sieben Charakterzüge vereinen: die Fähigkeit:

_ dem Gaumen wie dem Intellekt zu gefallen
_ das Interesse des Verkosters zu erhalten
_ intensive Aromen und Geschmacksrichtungen ohne Schwere zu bieten
_ mit jedem Schluck besser zu schmecken
_ sich mit dem Alter zu verbessern
_ eine einzigartige Persönlichkeit zu zeigen
_ sein Herkunftsterroir zu re ektieren.

Nach diesen Kriterien vini zieren alle bekann­ ten Weingüter und Châteaux ihre Weine. Par­ kers Liste der grossen Weine ist nicht sonderlich lang, sie stammen von 156 Produzenten. Inter­ essant daran ist, dass über hundert aus unseren Nachbarländern Frankreich, Deutschland, Ita­ lien und Österreich herkommen. Die Schweiz ist also umzingelt von der önologischen Elite – und trotzdem sind wir nicht sichtbar. Wir sind umgeben von den besten Terroirs der Welt, wie sie auch in unserem Land vorhanden sind; his­ torisch gesehen, haben die Römer auch bei uns schon Wein kultiviert. An Erfahrung fehlt es also nicht, wobei dies ein erster Knackpunkt ist: Es geht nicht um die Erfahrung, wie man Wein produziert, da ist auch die Schweiz auf Top­ niveau – sondern um die Erfahrung im Wett­ bewerb mit den anderen. Durch unser Privileg, dass wir in letzter Zeit nie wirklich mit unseren Weinen in die Ferne ziehen mussten, fehlt manch einem Produzenten der Horizont, wie er aus seinem guten, soliden Wein einen grossen machen könnte. Der Vergleich mit den Konkur­ renten könnte ihm aber auch zeigen, dass seine Weine viel besser sind, als er selbst denkt.

Dies betrifft zum Beispiel unsere Haupt­ weissweinsorte Chasselas. Der japanische Weinkritiker Katsuyuki Tanaka erklärte mir vor kurzem: «Chasselas ist nichts – aber in unserer Power­dominierten Weinwelt ist ‹nichts› gross.» Eine bessere De nition für Chasselas kenne ich nicht. Chasselas ist in seiner aromatischen Eigenheit zugleich einmalig und ein globales Phänomen. Chasselas ist eine der weltweit am häu gsten angebauten weissen Traubensorten. Die meisten Regionen nutzen die Chasselas­Traube aber als Tafeltraube oder zur Herstellung von Traubensaft. Wir Schwei­ zer nicht. Wir produzieren daraus seit Jahrhun­ derten einen knackig frischen Weisswein, den wir liebevoll auch vin de soif nennen – statt dass wir ihm eine richtige Identität verleihen, die auch ausserhalb der Schweiz bekanntwürde.

Chasselas ist dafür bekannt, sein delikates Aromapro l den Böden und klimatischen Be­ dingungen anzupassen. Chasselas gehört zur Gattung der nichtaromatischen Traubensor­ ten, die in ihrer Expression eher neutral sind, also das pure Gegenteil von Riesling oder Sauvignon blanc. Chasselas ist eine Traube der leisen Töne, und Weine aus solchen Sorten sind sehr rar geworden. Die Mehrheit der heute im Ausland vini zierten Weine sind intensiv, überaromatisch und für eine Generation kre­ iert, die schon zum Frühstück Red Bull trinkt. Daher ist ein guter Chasselas für Nichtkenner oft schwer zu erkennen, da er nie sonderlich auffällt, dafür aber meist unglaublich schön zu trinken ist. Katsuyuki Tanaka weiter: «Die Schweiz ist ein Land der Bescheidenheit und des Understatements sowie der inneren Stärke und Entschlossenheit. So ist auch der Chasselas. Er drängt sich nie in die erste Reihe. Er steht aber mit einer einzigartigen Entschlossenheit mit beiden Füssen auf dem Boden.»

Es mussten 25 Jahre vergehen, während deren ich um die Welt gereist war, Rebberge besucht, Weine aller Art entdeckt und getrun­ ken hatte und mir ein Bild der globalen, sich ständig bewegenden Weinwelt machen konnte, bis ich reif genug war, um Chasselas zu schät­ zen. Inzwischen ist Chasselas zu einem meiner liebsten Weissweine geworden. Jede Weinregi­ on der Welt hat eine Signaturtraube oder Signa­ turregion. Deutschland hat Riesling, Öster­ reich Grünen Veltliner, Kalifornien Chardonnay und Cabernet Sauvignon – Frankreich hat das Burgund, das Bordeaux und die Champagne, Italien die Toskana und das Piemont. Und die Schweiz? Es gibt keine klare Antwort darauf, aber der Chasselas hätte absolut das Potenzial, unsere Signaturtraube zu sein. Wer die Weine von Chasselas­Grandseigneur Louis­Philippe Bovard verkostet, weiss, dass sie klar auf Parkers Liste der Topweine der Welt gehören – wie noch die Tropfen des einen oder anderen Weingutes an den Ufern des Genfersees.

Lokaler Wein ist König

Spricht man vom Schweizer Wein, ist es schwie­ rig, eine allgemeingültige De nition zu nden – mit den drei Sprachregionen gibt es auch drei Wein­ und Lebenskulturen. In der Westschweiz wird nicht nur am meisten Schweizer Wein pro­ duziert (75Prozent), es wird auch primär der eigene Wein getrunken. Wein gehört hier zum täglichen Leben wie Pfeffer und Salz. Wer um 11 Uhr noch einen Kaffee bestellt, outet sich als Fremden oder Deutschschweizer, schliesslich ist jetzt un verre de blanc angesagt. Ganz anders die Sitten in der Deutschschweiz. Die Apérozeit beginnt hier erst um 18 Uhr, und Schweizer Wein ist nicht der König der Weinkarten. Im Tessin verhält es sich ähnlich wie im Welsch­ land: Der lokale Wein ist König, aber auch Ab­ füllungen aus dem angrenzenden Italien sind beliebt. Einheitlich sind wir nur in unserer Ver­ bandstradition, die vor dem Wein nie haltge­ macht hat. Die meisten Winzer gehören einem regionalen Verband an und produzieren pri­ mär Weine, die vom Kollektiv akzeptiert und selten hinterfragt werden. Individuelles Wein­ schaffen existiert und wächst kontinuierlich, ist aber in der Schweiz nach wie vor selten.

Der grösste Individualist und bekannteste Winzer ausserhalb der Schweiz ist Daniel Gan­ tenbein aus der Bündner Herrschaft. Er und sei­ ne Frau Martha haben immer nach Höherem gestrebt und sind ihren eigenen Weg gegangen. Das ist für die Evolution von Topweinen emi­nent, denn ein weiterer Punkt, der zur Schaf­ fung grosser Weine oder zumindest zu grossen Erkenntnissen führt, ist die ständige Neugier­ de. Am meisten lernt man im Vergleich.

Ich erinnere mich an einen Besuch beim pie­ montesischen Top­Produzenten Angelo Gaja. Statt nur seine eigenen Weine verkosten zu lassen, öffnete er zusätzlich die besten Weine anderer Produzenten aus dem Piemont und diskutierte lange mit mir darüber. Ähnliches habe ich mit Daniel und Martha Gantenbein erlebt. Zusätzlich zu den eigenen Weinen öffne­ ten sie die weltbesten roten und weissen Bur­ gunder sowie die deutschen Rieslinge und streuten eine Abfüllung aus der eigenen Pro­ duktion ein. Auch der Tessiner Weinhändler und Winzer Luigi Zanini, der immer seinen eigenen Weg gegangen ist, hat eine legendäre Passion für die grossen Bordeaux, die er gerne mit seinen Topabfüllungen vergleicht.

Urvater dieser Bewegung ist Robert Mondavi aus Kalifornien, der für ganze Winzergenera­ tionen zum Vorbild geworden ist. Sein offener Geist und sein Glaube an die Qualität des kali­ fornischen Terroirs haben aus einer damals nicht existierenden Weinregion das erfolg­ reichste Weingebiet ausserhalb Europas ge­ macht. Nachdem er zusammen mit den Erzeu­ gern von Château Mouton­Rothschild 1979 den ersten Jahrgang seines mittlerweile legendären «Opus One» lanciert hatte, organisierte er eine Blindprobe mit grossen Weinen aus dem Bor­ deaux und stellte seinen Wein dazu. Das war revolutionär – dass man sich nicht fürchtete, sein Produkt mit der Elite der Welt zu verglei­ chen. Aber Mondavi wusste genau, dass man nur einen grossen Wein kreieren kann, wenn man die anderen grossen Weine der Welt kennt.

Charakteristisch für den Schweizer Weinbau ist seine ausserordentliche Vielfalt an Rebsor­ ten und eine grosse Anzahl an Raritäten, die kaum in anderen Ländern zu nden sind. Die meisten dieser Sorten wachsen im grössten Weinbaugebiet der Schweiz, dem Wallis. Es ist eine Region der Kontraste: Es hat Gletscher und Palmen, Safran und Alpkäse, Chasselas und Heida. Mit rund 5000 Hektaren verfügt das Wallis über ein Drittel der Rebbau äche der Schweiz. Auch wenn hauptsächlich Chasselas kultiviert wird, ist das Wallis mit den weltweit einzigartigen Sorten Petite Arvine, Heida, Hu­ magne rouge, Humagne blanche und Cornalin ein Mekka für Weinliebhaber. Kenner sprechen von sechzig verschiedenen Rebsorten. Solche Sorten sind die Edelsteine unserer Weinkultur. Sie treten wie Einzelkünstler auf dem globalen önologischen Parkett auf. Man kann sie nicht mit anderen Traubensorten vergleichen, aber ihre Charakteristik ist Symbol für ihre Her­ kunft – sie sind Botschafter für die hochwertige und eigenständige Schweizer Weinkultur.

Die wichtigste Rotweinsorte hierzulande ist der Blauburgunder. Die bekanntesten Vertreter stammen aus Graubünden. Hier sind rund 80 Prozent der Reb äche damit bestockt, was der Region den Namen «Burgund der Schweiz» verliehen hat. Wahrscheinlich müsste man die­ ses Gebiet etwas ausweiten, da die besten Blau­ burgunder inzwischen zwischen Neuenburg und der Bündner Herrschaft kultiviert werden, meist von einer neuen Generation von Win­ zern, die entweder im Burgund gelernt haben oder sich an den grossen Burgunderweinen ori­ entieren. Noch nie sind so viele neue Schweizer Prestigeweine lanciert worden wie in den letz­ ten drei Jahren. So aus dem Wallis der «Electus» der Provins­Tochter Valais Mundi, die Ab­ füllungen der Domaine Histoire d’Enfer sowie die «Cœur de Domaine» von Rouvinez.

Wir sind ein Land des Konsenses – oder zu­ mindest der Konsenssuche –, der Präzision und des Strebens nach Qualität. Auch wenn wir bis jetzt wie in einer geschützten Werkstatt unsere eigene Weinkultur entwickelt haben, könnte unser Schweizer Wein auf dem Weltmarkt brillieren, denn eine derartige Fülle authen­ tischer, autochthoner und von der Aussenwelt unbeein usster Weine ist in einer global ge­ wordenen Weinwelt mehr als nur willkommen. Bis es so weit ist, sollten wir unseren önolo­ gischen Schatz selbst geniessen. 

Charakteristisch für den Schweizer Weinbau ist seine ausserordentliche Vielfalt an Rebsor­ ten und eine grosse Anzahl an Raritäten, die kaum in anderen Ländern zu nden sind. Die meisten dieser Sorten wachsen im grössten Weinbaugebiet der Schweiz, dem Wallis. Es ist eine Region der Kontraste: Es hat Gletscher und Palmen, Safran und Alpkäse, Chasselas und Heida. Mit rund 5000 Hektaren verfügt das 

 

Über Chandra Kurt

Chandra Kurt ist eine der bekanntesten Weinkritiker der Schweiz. Sie hat zahlreiche Bücher verfasst, unter anderem den Bestseller «Weinseller».