Die Allobroger, vielleicht der erste Wein der Schweiz
- Dienstag 16 Mai 2017
Vor 30 Jahren nahm Genf mit der Einführung des Systems für kontrollierte Ursprungsbezeichnungen eine Vorreiterrolle in der Schweiz ein. Das westlichste Weingebiet des Landes ist wahrscheinlich auch sein ältestes. In der Antike gehörte das Genfer Land nicht zum Gebiet der Helvetier, sondern zum Einflussbereich der Allobroger: ein romanisierter keltischer Stamm, der den Vorgängern der Syrah - und Mondeuse - Traube seinen Namen gab.
Aus der Geschichte und bei archäologischen Funden ist abzulesen, dass die Schweizer Hochebene in der Antike von den Helvetiern bevölkert war. Dieser keltische Stamm stand den Römern relativ skeptisch gegenüber, nicht zuletzt den Weinhändlern, die massenhaft Amphoren mit Wein über die Alpen nach Norden exportierten. Die Romanisierung und damit auch der Wein und der Weinanbau hielten erst nach Divicos Niederlage im Jahre 58 vor Christus Einzug. Doch die Helvetier bevölkerten nicht die gesamte Schweiz. Im Westen bildete die Rhône eine natürliche Grenze zum Land der Allobroger – ebenfalls ein keltischer Stamm, der sich bereits seit 121 vor Christus unter dem römischen Joch befand.
Diese Gallorömer nahmen mehr als die Hälfte des heutigen Kantons Genf ein und verstanden sich bereits auf den Weinbau. Die Rebsorte Vitis allobrogica bzw. Allobrogicum soll sogar auf sie zurückgehen. Aus der von den lateinischen Autoren Plinius dem Älteren und Columella beschriebenen Sorte wurde der Picatum gekeltert, ein harziger Wein, dessen Name wahrscheinlich vom Pech herrührt, das man zur Abdichtung der Fässer und Krüge verwendete, in denen er hergestellt wurde. Vom Picatum gab es verschiedene angesehene Crus mit unterschiedlichen Merkmalen: Sotanum, Taburnum und Ellicum.
Der Ursprung der Syrah-Traube
Das Gebiet der Allobroger erstreckte sich vom Genfersee bis zur Isère und von der Rhône bis zu den Nordalpen. Ihre Hauptstadt war Vienne. Aus den von ihnen angelegten Weinbergen entlang der Rhône gingen einige der renommiertesten französischen Appellationen hervor: Saint-Joseph und Côte Rôtie am rechten Ufer, Hermitage am linken Ufer. Kann aufgrund des ungebrochenen Fortbestands der Weinberge, von denen der Allobroger bis hin zum einzigartigen Terroir der Syrah-Traube, darauf geschlossen werden, dass die grosse Rebsorte des Rhône-Tals direkt von der Vitis Allobrogica abstammt? Für den französischen Ampelographen Louis Levadoux besteht daran kein Zweifel. In seinem 1964 erschienen Werk «La vigne et le vin des Allobroges» weist er darauf hin, dass die Ausbreitung von Syrah und Mondeuse Noire - die in Savoyen vorherrschende rote Rebsorte - vor dem Reblausbefall genau dem Anbaugebiet der Allobrogica entsprach. Er untermauert seine These mit historischen und sprachwissenschaftlichen Argumenten. Levadoux vertritt den Stand- punkt, dass die gallorömische Rebsorte eine Proto-Mondeuse war, die sich im Laufe der Jahrhunderte zu Syrah und Mondeuse Noire weiterentwickelte. 1998 wurde die Abstammung der Syrah-Traube in Frankreich und in den USA durch DNA-Tests ermittelt. Es handelt sich um eine natürliche Kreuzung von Dureza, einer alten Rebsorte aus der Ardèche, die früher an der Isère angebaut wurde, und der Sorte Mondeuse Blanche, die wiederum von der Mondeuse Noire abstammt.
Der geschichtliche Hintergrund und die genetischen Untersuchungen scheinen unwiderlegbare Fakten zu schaffen. «So einfach ist das nicht», wendet José Vouillamoz ein. Der Ampelologe fand heraus, dass der Syrah zwar der «Enkel» der Mondeuse ist, aber noch einen weiteren berühmten Vorfahren hat, nämlich den Pinot Noir, seinerseits «Grossvater» der Dureza. «Die Römer hatten nicht dieselbe Vorstellung von einer Rebsorte wie wir heute. Namen wie Vitis Allobrogica bezeichneten keine Traubensorte, sondern ein Erzeugungsgebiet. Wenn man eine Reise in die Vergangenheit machen und die Weinberge der Allobroger analysieren könnte, würde man wohl einen gemischten Satz aus fünf oder sechs verschiedenen Rebsorten vorfinden, von denen einige, aber bestimmt nicht alle eine genetische Verbindung zu Syrah und Mondeuse Noire haben.»
Rumpotins und Hutins
In seinem Werk «Naturalis historia» beschreibt Plinius der Ältere Weinbaupraktiken, die typisch für die romanisierten gallischen Regionen waren. Er schreibt: «Man sieht einen Baum mit dem Namen Rumpotin, in dessen Nähe sich im Allgemeinen grosse Rebenstämme befinden. Der sehr dicke Baum bildet mit seinen Ästen eine Art runde Böden, an denen die Rebe hinaufwächst. Dabei schlängelt sie sich vom Stamm zu der Hand oder dem Geäst, das ihr das Holz darbietet, und rankt sich dann um jeden Finger der leicht angehobenen Zweige.» Columella geht noch konkreter darauf ein: «Es gibt in Gallien eine andere Art von Bäumen, die sich mit den Reben verbinden und Rumpotin heissen: Dazu müssen die Bäume klein sein und wenig Blätter tragen. [...] Der Baum hat in der Regel drei Äste. An jedem dieser Äste werden auf beiden Seiten mehrere Seitentriebe beibehalten. Fast alle anderen Zweige werden abgeschnitten, da sie zu viel Schatten werfen würden. Die Anbaupraktiken sind dieselben wie in Italien: Die Reben wer- den in langen Gräben gepflanzt, sie werden genauso gepflegt, man bringt sie an den Ästen des Baumes an. Jedes Jahr zieht man neue Ranken zu den Nachbarbäumen und schneidet die alten ab.»
Dieses System wurde im Mittelalter in weiten Teilen Europas unter der Bezeichnung «Hautins» oder «Hutins» weiterpraktiziert. So konnten neben dem Weinbau auch Obstbäume angepflanzt werden, die der Rebe als Stütze dienten. Ausserdem wurde der Boden als Weideland für Schafe, Ziegen oder Schweine freigehalten. Das «Hautins»-System brachte allerdings nur Weine geringer Qualität hervor, die bei den Agronomen schon zu Beginn des 17. Jahrhunderts für Kritik sorgten. Dadurch wurde diese Anbaumethode sukzessive verdrängt und verschwand zu Beginn des 20. Jahrhunderts schliesslich ganz. Erst in den 2010er Jahren tauchten in Genf hier und da wieder «Hutins» auf. Allerdings werden sie dem modernen Weinbau nicht wirklich gerecht. Sie sollen vielmehr an diese historische Anbaumethode erinnern und seltenen Vogel- arten Schutz bieten – etwa dem Steinkauz und dem Wiedehopf.
Interview
Wer waren die Allobroger?
Die Allobroger wurden erstmals im Jahr 218 vor Christus geschichtlich erwähnt, als sie auf Hannibal trafen. Der Feldherr aus Karthago legte einen Nachfolgekonflikt innerhalb des Herrschergeschlechts der Allobroger bei. Im Gegenzug erhielt er bei seiner berühmten Alpenüberquerung die Unterstützung des von ihm begünstigten Fürsten. Der Name «Allobroger» bedeutet «die von anderswo herkommen». Aufgrund von Münzfunden geht man deshalb davon aus, dass diese Kelten aus dem Piemont stammten und sich zwischen dem vierten und dritten Jahrhundert in einem Gebiet niederliessen, dessen natürliche Grenzen die Alpen und die Rhone bildeten.
Kelten, Gallier, Allobroger, Helvetier – wo liegt der Unterschied ?
Die Kelten bevölkerten einen Grossteil des europäischen Kontinents, vom Atlantik bis zum Balkan, ja sogar Anatolien. Und natürlich auch die britischen Inseln und den Norden der italienischen Halbinsel, wo sie allerdings nach und von den Römern vertrieben wurden. Die Gallier, also jene Kelten, die auf dem Gebiet des heutigen Frankreich lebten, zählten 52 Stämme, darunter auch die Allobroger. All diese Stämme verbanden die keltischen Sprachen und ähnliche Sitten und Bräuche. Die keltische Gesellschaft gliederte sich in drei Klassen: die Krieger, also der Adel, die Priester, deren geheime religiöse Riten von Druide zu Druide weitergegeben wurden, und das gewöhnliche Volk der Handwerker, Händler und Bauern.
Wann wurden aus den Allobrogern Römer?
Offiziell wurden sie am 1. August 123 vor Christus unterworfen, als sie nach einer entscheidenden Schlacht südlich von Valence ihre politische Eigenständigkeit verloren. Selbstverständlich änderte sich nicht alles von heute auf morgen, doch ab 70 vor unserer Zeitrechnung war das Entstehen einer gallorömischen Gesellschaft zu beobachten. Natürlich gab es unter den Allobrogern Befürworter und Gegner der Römer. Die Habgier der römischen Statthalter löste Rebellionen aus, doch zeigten sich die Allobroger als treue Verbündete. Manche nahmen die römische Staatsbürgerschaft an und kamen damit in den Genuss der entsprechenden Privilegien, darunter auch des Rechts, Wein anzubauen.
Warum konnten die Gallier keinen Weinbau betreiben?
Es gibt zwar relativ zahlreiche Hinweise dar- auf, dass die Kelten importierten Wein tranken, doch keine konkreten Beweise dafür, dass in den keltischen Gebieten vor der Römerzeit Wein angebaut wurde. Der Weinhandel war für die Römer übrigens strategisch von grosser Bedeutung. Der Statthalter der Provinz Gallia Narbonensis, die alle von Römern eroberten Gebiete zwischen Rhônetal und Genf umfasste, verbot 118 vor Christus bei Todesstrafe, auf dem von ihm verwalteten Gebiet Weinbau zu betreiben. Nur römische Staatsbürger waren vom Verbot ausgenommen. Eineinhalb Jahrhunderte später verbot Kaiser Claudius unter Androhung der Todesstrafe den Import von gallischem Wein nach Italien. Diese wirkungs- losen protektionistischen Massnahmen zeigen, dass nördlich der Alpen intensiv Weinbau betrieben wurde.
Wie war die Lage in Genf?
Julius Caesar, der 61 vor Christus bei einem politischen Konflikt in Rom für die Allobroger Stellung bezog, erklärte, dass Genf die östlichste verbündete Festung sei. Jenseits begann feindliches Gebiet. Als die Helvetier beschlossen, sich in der Gegend von Bordeaux niederzulassen, rüsteten sich die Allobroger gegen den Durchzug ihrer Nachbarn, der ihnen nichts Gutes verhiess. Dazu riefen sie den berühmtesten römischen Feldherrn zu Hilfe. So fiel Helvetien nach der Schlacht von Bibracte schliesslich unter römische Herrschaft.
Welche greifbaren Spuren haben die Allobroger in Genf hinterlassen?
Unter der Kathedrale Saint-Pierre im Herzen der Genfer Altstadt fand man den Grabhügel eines adligen Allobrogers aus dem zweiten Jahrhundert vor unserer Zeitrechnung. Wie bei allen anderen Kelten gehörte auch bei diesem Volk ein Festmahl zu den Bestattungsriten. Das gesamte Geschirr dieses Abschiedsmahls wurde zerbrochen und dann in der Erde vergraben. So wurde zu Ehren des Verstorbenen sichergestellt, dass es nur einmal gebraucht wurde, was dem Geschirr gewissermassen einen sakralen Charakter verlieh. Und bisher wurden erst auf einem kleinen Gebiet von 80 Quadratmetern der insgesamt 5000 Quadratmeter grossen Esplanade Ausgrabungen vorgenommen. Dabei fand man auf diesem sehr begrenzten Raum Fragmente von 1049 Trinkschalen. Daraus können wir schliessen, dass mitten im Herzen von Genf mehrere zehntausend allobrogische Gefässe in den Tiefen lagern, die spezifisch für den Weingenuss bestimmt waren.
Über Marc-André Haldimand
Marc-André Haldimann erwarb an der Universität Lausanne einen Doktortitel in Archäologie. Der auf die gallorömische Zeit spezialisierte Wissenschaftler leitete über 20 Jahre lang Ausgrabungs- arbeiten in der Romandie und im Mittleren Osten. Ausserdem war er acht Jahre lang leitender Konservator
der Abteilung Archäologie am Genfer Museum für Kunst und Geschichte. Bei seiner Amtsübernahme im Jahr 2004 veranstaltete er dort in Zusammenarbeit mit dem Museum der gallorömischen Zivilisation in Lyon eine Ausstellung mit dem Titel «Allobroger, Gallier und Römer nördlich der Alpen».