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Wer weniger verlangt, verdient beim Wein mehr

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Benny Epstein

Im Zürcher Restaurant Neumarkt kostet der Pinot Noir 2011 von Daniel Gantenbein 120 Franken, im Posta in Rueras 149.50 Franken, im Globus gar 229 Franken. Wie kann René Zimmermann so tiefe Preise anbieten – und weshalb tut er dies?

Bild: René Zimmermann: «Wenn die Hälfte der Gäste mehr über Wein weiss als der Gastgeber, funk­tioniert es nicht. Die Kunden interessieren sich immer stärker für Wein.» (Fotos: Daniel Winkler)

Auf dem runden Holztisch steht eine Flasche Grain Cornalin von Marie-Thérèse Chappaz, Jahrgang 2010. Hinter diesem Wein könne er stehen, sagt René Zimmermann. Der Wein der Walliser Spitzenwinzerin steht in seinem Restaurant Neumarkt im Zürcher Niederdorf für 95 Franken auf der Karte. «Ein Schnäppchen», findet der 71-jährige Gastgeber. «Dieser Wein ist Weltklasse, besser kann man ihn nicht machen.» 

Chappaz’ Grain Cornalin ist eine Rarität. Privat kaufen? Fast unmöglich. Im Restaurant trinken? Fast nirgends. Neun Jahre gereift? Erst recht nicht. Dabei ist Cornalin, eine autochthone Rebsorte aus dem Wallis, ein Wein, der Geduld erfordert. Im Rebberg ist Cornalin launisch und spätreif. Im Glas zeigt er sich in jungen Jahren rustikal und ungestüm, im Alter verblüfft er aber durch Finesse. Deshalb steht im Neumarkt zurzeit der 2010er auf der Weinkarte. Der gleiche Wein (Jahrgang unbekannt) kostet im La Vache qui Vole in Martigny VS, elf Autominuten vom Weingut Chappaz entfernt, 110 Franken. Ebenso viel wird für den 2014er im Waldhaus Sils GR verlangt. Im Restaurant Domaine de Châteauvieux in Satigny GE kostet die Magnumflasche aus dem Jahr 2016 sagenhafte 315 Franken. Doch weshalb bietet René Zimmermann diesen edlen Tropfen günstiger an als andere Gastronomen? 

Von 120 bis 245 Franken – für den gleichen Wein

Vorerst sei ein weiteres Beispiel genannt: Wie der Grain Cornalin stammt auch der Pinot Noir von Daniel und Martha Gantenbein, der im Neumarkt auf der Karte steht, aus dem Jahr 2011. Der Gast kann ihn hier für 120 Franken trinken. «Nur trinken, über die Gasse verkaufen wir keinen Wein.» Der Grund: Der bekannteste Schweizer Pinot Noir kostet bei der Konkurrenz mehr, teils viel mehr. Auch für den Genuss zu Hause findet man schon den aktuellen Jahrgang kaum, gereifte Exemplare noch seltener. Im Warenhaus Globus am Bellevue, 13 Gehminuten vom Neumarkt entfernt, gibt es Gantenbein 2011 zu kaufen – für 229 Franken. Der Vergleich mit der Gastro-Konkurrenz: Gantenbeins Pinot Noir kostet im Zunfthaus zum Löwen in Sar­gans SG 135 Franken (Jahrgang 2015) respektive 145 Franken (2014). Im Alpina in Klosters GR steht der 2010er für 140 Franken auf der Karte, im Hotel Posta in Rueras GR kostet der 2012er 149.50 Franken. Als der 2011er ausgeschenkt wurde, kostete er ebenso viel. Das Andermatter Luxushotel The Chedi verlangt für den 2015er 245 Franken. 

«Zimmi», wie ihn alle nennen, ist gelernter Maurer. Bauführer wollte er werden. Er wurde Sozialarbeiter, ehe er im Alter von 30 Jahren im Rössli in Stäfa am Zürichsee anheuerte. «Da hatte ich von Wein noch keinen Schimmer», sagt Zimmermann. «Mein Lieblingswein war damals der Dôle Lacloche, den fand ich wahnsinnig toll.» Als er diesen 20 Jahre später wieder mal trinkt, muss er lachen. «Ein Wein ohne Jahrgang, teils oxidiert.» Viel ist in der Zwischenzeit passiert, nicht nur mit dem Dôle Lacloche, dafür aber mit Zimmermann. Im Rössli arbeitet er nur kurzzeitig im Service, in der Küche ist er besser aufgehoben. Hier kocht er vier Jahre lang, wäscht Teller, bereitet Salate und Desserts zu. «Wir waren alle keine Profis, aber erfolgreich. Denn wir wussten, was unser Gast mag.» Der Hauswein im Rössli: Stäfner Räuschling, vom Weinproduzenten und -händler Landolt in Halbliterflaschen abgefüllt. «Den tranken wir in der Küche gerne, bis ich merkte, dass das Aufräumen doch deutlich schneller vorangeht, wenn ich davor nicht getrunken habe.» Doch irgendwie faszinierte ihn der Räuschling und weckte Zimmermanns Interesse für Wein, insbesondere für Einheimischen. 

Die wachsende Begeisterung für Schweizer Wein gipfelte in der Zürcher Alpenrose. «Diese Beiz schrie förmlich nach Schweizer Produkten», erinnert sich Zimmermann. Und so war die Alpenrose 1993 der erste Gastronomiebetrieb, der zu 100 Prozent auf Schweizer Wein setzte. «Wir setzten das Schaffen der einheimischen Produzenten ins Rampenlicht, indem wir von jedem berücksichtigten Winzer bis zu zehn Weine auf der Karte hatten. Ich war der Erste, der Marie-Thérèses Weine in der Deutschschweiz verkaufte.» Zimmermann nennt nur Chappaz’ Vorname, wie man dies eben tut, wenn man über Freunde spricht. «Es ist schön, diese Weinbauern zu meinen Freunden zählen zu dürfen. Sie sind grossartige Typen, deren Arbeit ich sehr schätze. Und sie schätzen meine.» 

Über Händler bezieht er nur ausländische Weine. «Den Schweizer Wein will ich direkt vom Produzenten.» So umgeht Zimmermann einerseits die Marge, die sonst der Händler einstreicht. Gleichzeitig baut er auf diese Weise Beziehungen zu den Winzern auf, kennt die Menschen hinter dem Produkt und hat die Gewissheit, stets die Weine zu kriegen, die er haben möchte.

Teure Weine lohnen sich

Mittlerweile ist er seit 23 Jahren der Chef im Neumarkt. Auf der Weinkarte dominieren die Schweizer Weine. Wie viele Flaschen im Keller liegen, weiss er nicht genau. «Ich will es gar nicht wissen.» Er lässt ihnen Zeit, ehe sie auf die Karte kommen. Doch während andere Gastronomen für gereifte Weine deutlich höhere Preise verlangen als für jüngere, hebt er den Preis höchstens leicht an. Verdient er so letztlich weniger mit dem Verkauf von Wein? «Bislang haben wir noch nie draufgelegt.» Viele Gastronomen kaufen die Weine erst nach ein paar Jahren von einem Zwischenhändler zu einem höheren Preis und müssen so höhere Preise kalkulieren als Zimmermann, der die Weine im Keller reifen lässt. 

Wie errechnet sich der Flaschenpreis im Neumarkt? «Das mittlerweile veraltete Faktor-Denken habe ich nie begriffen. Ich habe ja gleich viel Aufwand bei jedem Wein.» Zimmermann schlägt pro Flasche den selben Deckungsbetrag auf den Einkaufspreis. «Es lohnt sich also, einen etwas teureren auszusuchen. Wer das nicht tut, kann nicht rechnen oder interessiert sich nicht für Wein. Wer bei mir den günstigsten Rioja trinkt, bezahlt eine unverschämt hohe Marge, wenn man den Faktor betrachtet. Aber das ist mir egal.» Es ist sein persönliches Anliegen, dass sich Gäste etwas gönnen und ein paar Franken mehr bezahlen, um guten Wein zu kriegen. 

Das sieht Margrit Hänggi (62) gleich. Gemeinsam mit ihrem Mann Rolf (61) führt sie seit bald elf Jahren das Hänggi’s in Davos GR, selbstständige Wirte sind sie seit 35 Jahren. Den Spitzen-Chasselas Dezaley Médinette Grand Cru von Louis Bovard gibt es bei ihr für 58 Franken. Zum Vergleich: Im Restaurant des Waldhotels Doldenhorn in Kandersteg BE kostet er 69.50 Franken, im Restaurant Attisholz im solothurnischen Riedholz 79 Franken, im Luzerner Viersternehotel des Balances gar 86 Franken. Margrit Hänggi: «Manchmal, wenn wir auswärts essen gehen, denke ich mir schon: ‹Gehts eigentlich noch?›» Faire Preise sind ihr wichtig, damit sich der Banker aber auch der Arbeiter willkommen fühlt. Auch während des Weltwirtschaftsforums (WEF) bleiben die Preise im Hänggi’s gleich. Das Wirtepaar schlägt bei jeder Flasche 30 Franken auf den Einkaufspreis drauf. «Das zahlt sich aus», so Margrit Hänggi. «Manch einer gönnt sich deshalb noch eine zweite Flasche.» So bleiben ihr unter dem Strich zwei Mal 30 Franken, anstelle von einmal 40 Franken, die sie verdienen würde, wenn sie den Dezaley für 68 Franken verkaufen würde, der Gast deshalb aber nur eine Flasche bestellt. «Wir hören immer wieder von Gästen, wie fair die Preise bei uns seien. Vor allem aus Zürich stammende Zweitwohnungsbesitzer gönnen sich bei uns Weine, die sie sich in Zürich nicht leisten würden.» 

Zimmermann und Hänggi sind sich einig: Im Gourmetlokal dürfen die Preise höher sein. Da ist der Personal- und Warenaufwand in der Küche meist höher, sodass mit dem Wein mehr Geld verdient werden muss. Zudem werden diese Restaurants von einer Kundschaft aufgesucht, die durchschnittlich ein höheres Budget zur Verfügung haben. Dass aber auch Sternerestaurants Spitzenweine zu vernünftigen Preisen anbieten können, beweist das Mesa in Zürich. Sebastian Röschs Küche ist mit einem Michelin-Stern und 16 Gault-Millau-Punkten bewertet. Jeder vierte Gast komme aber in erster Linie aufgrund der attraktiven Weinkarte, sagt Chef de Service Sandra Brack: «Wir wollen, dass Gäste gute Tropfen zum fairen Preis trinken können.» Der Weinkeller ist im Mesa Chefsache, Besitzerin Linda Mühlemann pflegt seit vielen Jahren enge Kontakte zu den besten Winzern. Um deren ­Schaffen bestmöglich präsentieren zu können, kommen die Weine – wie im Neumarkt – erst im gereiften Zustand auf die Karte. Brack: «Viele Gäste sind überrascht, wie viele gereifte Weine auf der Karte stehen und wie moderat die Preise sind.» 

Kein allzu grosses Risiko

Neben zahlreichen Weinen unter 70 Franken wartet im Mesa auch eine stolze Auswahl an internationalen Spitzenweinen auf die Gäste. Der Premier Grand Cru Bordeaux vom Château Margaux mit Jahrgang 2001 kostet im Mesa 495 Franken. Beim Schweizer Online-Händler Flaschenpost kostet der selbe Wein 667.50 Franken. Im St. Moritzer Luxushotel Suvretta – die Küche ist ebenfalls mit 16 Punkten, aber ohne Stern bewertet – wird für den 2010er desselben Weinguts 2890 Franken verlangt! Zwar gilt das Weinjahr 2010 im Bordelais als hervorragend, dennoch dürfte der neun Jahre ältere 2001er zum jetzigen Zeitpunkt mehr Trinkspass bereiten. Sandra Brack kommentiert den Konkurrenzvergleich nicht. Sie sagt einzig: «Ja, Linda Mühlemann kalkuliert fair.» Wie im Neumarkt profitieren auch im Mesa die Gäste davon, dass die Weine früh gekauft und dann jahrelang gelagert werden. 

Klar: Das braucht Platz im Keller und einen gewissen finanziellen Spielraum, da während der Lagerungsphase sogenannt totes Geld herumliegt. Doch gerade beim Schweizer Wein geht der Gastronom kein allzu grosses Risiko ein. Im Gegensatz zu den grossen Weinen aus Frankreich, Italien, Spanien oder den USA, deren Einkauf sehr kostspielig und mit dem Gang über einen Händler verbunden ist, sind lagerfähige Schweizer Weine mit tollem Alterungspotenzial ziemlich unkompliziert und mit kleinerem Portemonnaie zu kriegen. 

Ein weiterer Vorteil: Die grossen, berühmten Weine der Welt müssen meist zehn, manche gar zwanzig oder noch mehr Jahre reifen, ehe sie ihr bestes Niveau erreichen. Die hiesigen Tropfen zeigen bereits nach fünf bis acht Jahren eine schöne Entwicklung, das Warten lohnt sich. René Zimmermann: «Es gibt vielleicht grössere, prestigeträchtigere Weine. Aber ein guter, gereifter Wein aus der Schweiz ist für mich das Grösste. Erst recht zu diesem Preis.» 

Sein Tipp an die Berufskollegen: «Wenn die Hälfte der Gäste mehr über Wein weiss, als der Gastgeber, funktioniert es nicht. Und die Leute interessieren sich immer stärker für Wein. Jeder Gastronom hat die Möglichkeit, ab und zu einen Schweizer Winzer zu besuchen. So baut man Kontakte und Wissen auf. Und diese beiden Faktoren führen dann auch zu einem Weinangebot mit fairen Preisen.»